Ausdrucksmalen mit Kindern

Beiträge von Jutta Ittel und Manuela Meyer-Schwenk

Freiheit und Geborgenheit [Jutta Ittel]
Love and Peace [Jutta Ittel]
Neue Bücher zum Thema [Jutta Ittel]
Ein Kind in einem Malatelier [Manuela Meyer-Schwenk]

Jutta Ittel

FREIHEIT UND GEBORGENHEIT

Was Kinder beim Ausdrucksmalen erleben können

Ja, du darfst einfach malen was du willst.
Es gibt hier keine guten oder schlechten Bilder.
Niemand bewertet dein Bild.
Niemand deutet dein Bild.
Du entscheidest.

Niemand macht mir Druck, ich finde meinen Rhythmus, ich kann entspannen.
Ich darf sein, wie ich bin, ich darf mich zeigen. Es gibt nichts „Falsches“ hier, ich muss
kein Ziel erreichen, ich muss nichts leisten, ich muss nichts lernen.
Ich darf schmieren und kritzeln, ich darf komische Bilder malen. Ich habe Zeit, meine
eigenen Entscheidungen zu treffen. Ich übernehme Verantwortung für mein Bild.

Ich bin da.
Ich sehe dich.
Ich vertraue dir.
Ich mache dir Mut.
Ich bleibe bei dir.

Ich werde wahrgenommen, ich werde ernst genommen. Ich werde unterstützt und sei
mein Anliegen auch noch so seltsam. Ich werde nicht verlassen, auch wenn ich
eigenwillige Dinge tue, auch wenn ich schwierig bin, auch wenn ich anders bin als
die anderen.

Die anderen Kinder respektieren dich.
Du respektierst die anderen Kinder.
Niemand wird ausgelacht.
Ihr seid eine Gemeinschaft.
Du gehörst dazu.

Ich bin Teil dieser Gruppe. Ich darf anders sein, ohne dass mir etwas passiert.
Ich darf meine besonderen Bilder malen, ohne dass mich jemand hänselt.
Ich bin zugehörig, ich bin nicht alleine.

Wir alle malen in diesem geschützten Raum.
Wir wandern hin und her zwischen Bild und Palettentisch.
Wir benutzen Farben und Pinsel aus einer gemeinsamen „Quelle“.
Wir nehmen Rücksicht aufeinander.

Das Atelier ist ein verlässlicher Ort, ich bin sicher hier.
Ich kann beim Malen ganz bei mir selbst sein. Am Palettentisch tauche ich wieder in
die Gruppe ein. Ich achte auf mich und ich achte auf die anderen.
Ich bin frei und geborgen.

Jutta Ittel

LOVE AND PEACE

Warum Ausdrucksmalen unsere Kinder für die Zukunft stärkt

Wir leben in einer Zeit, in der sich alle nach Frieden sehnen in dieser krisen- und kriegserschütterten Welt. Unsere Kinder werden die nächste Generation sein und sie brauchen Kraft und Rüstzeug dafür. Dazu kann das Ausdrucksmalen einen kleinen Beitrag leisten.

Das Ausdrucksmalatelier ist ein besonderer Spiel- und Erfahrungsraum, ein Raum ohne Bewertung, ohne Zielorientierung, ohne Themenvorgabe, ein Raum, der die Kinder auf sich selbst zurückwirft, sie auffordert, selbst etwas zu entwickeln, selbst zu entscheiden und selbst Verantwortung zu übernehmen, immer mit jemandem an ihrer Seite, der ganz „Ja“ zu ihnen sagt, der ihnen etwas zutraut, der ihnen Mut macht, ihre eigenen Wege zu gehen. Sie dürfen hier ganz bei sich sein und sich in ihrem Bild entdecken; sie sind aber auch Teil einer Malgemeinschaft, verbunden mit den anderen Kindern.

So ist das Malatelier auch ein soziales Lernfeld. Die Kinder erleben, nicht immer der oder die Erste zu sein, Wartezeiten, vergriffene Pinsel, Konflikte mit den anderen Kindern oder der Malbegleitung, Grenzen und auch Grenzüberschreitungen. In diesem geschützten Rahmen können sie üben, mit all dem umzugehen – immer dazu angehalten, eigene Lösungen zu finden und die Verantwortung für ihr Tun zu tragen.

Das alles trägt etwas dazu bei, kreative, verantwortungsvolle Erwachsene aus ihnen zu machen,
Menschen, die es wagen, ein individuelles und freies Leben zu führen und ihre Ideen in die Welt zu bringen,
die Konflikte aushalten und lösen können,
die in der Lage sind, Grenzen zu ziehen und Grenzen einzuhalten,
die den Mut haben, ihre Gefühle zu zeigen, Beziehungen einzugehen und Liebe zu leben.

Und wie hat damals Bettina Wegner so schön gesungen: „Grade klare Menschen, wärn´n ein schönes Ziel. Menschen ohne Rückgrat, hab´n wir schon zuviel.“

NEUE BÜCHER ZUM THEMA „Ausdrucksmalen mit Kindern“

Vorgestellt von Jutta Ittel

Arno Stern:

Das Malspiel und die Kunst des Dienens [ISBN 978-3-927369-92-4]

Arno Sterns bisher ausführlichstes Buch über seine Arbeitsweise, in dem er genau erklärt, was er bei der Malbegleitung wann und warum tut. Mit vielen Bildern anschaulich dokumentiert.

Zitat:
„Wenn Sie mich fragen, ob ich stolz darauf sei – wenn ich von meinen Entdeckungen erzähle, durch die so viel Bestehendes hinfällig wird, glauben manche, ich sei eingebildet – ich bin nicht stolz. Stolz sein ist dem enteigneten verfolgten Flüchtling ein wesensfremdes Gefühl – ich, der Verbannte, bin ein Glückskind.“

Michele Cassou:

Kinderspiel [ISBN 9-783867-810944]

Michele Cassou hat ihre ganz eigene Art zu begleiten, immer mit Blick auf die individuelle Freiheit der Kinder, die einzig aus ihrer Intuition malen sollen. Mit vielen Beispielen von Malbegleitungen.

Zitat:
„Kinder müssen spüren, dass sie dafür geliebt und geschätzt werden, wer sie sind – und nicht für das, was sie tun.“

EIN KIND IN EINEM MALATELIER
nach Laurence Fotheringham „Ausdrucksmalen mit Kindern“

Manuela Meyer-Schwenk

Als Martin (Name geändert) zu mir ins Malatelier kam, war er vier Jahre alt. Er saß auf dem Schoß seiner Mutter, einer energischen Lehrerin. Ich hatte ihr – entgegen meinen Regeln – erlaubt, beim ersten Mal mit dabei zu sein. Sie erzählte, dass Martin nicht in der Lage sei, einen Pinsel „richtig“ zu halten. Beim zweiten Mal ließ er seine Mutter ohne Probleme gehen und kommt seither regelmäßig und mit großer Begeisterung samstags zum Malen in eine kleinen Gruppe etwa Gleichaltriger (4-7 Jahre).

Nach den ersten zehn Malstunden lud ich die Eltern ein, mit den Kindern ins Atelier zu kommen, und stellte ihnen mein Konzept vor.

Bis dahin hatte ich mich weitgehend an Arno Sterns Setting gehalten, allerdings mit der Erweiterung, dass die Kinder über ihre Bilder erzählen durften, wenn sie das wollten. Und ich hatte mir nicht diese tollen Pinsel zugelegt (Ich stand ganz am Anfang meiner Ateliertätigkeit und musste sparen.), die zu einem echten Stern-Malort natürlich gehören. Ich kaufte gute daVinci-Schulpinsel, die die Kinder so benutzen durften, wie sie es eben schon konnten. Ich stellte keine Regeln auf, wie die Pinsel zu halten waren und griff auch nicht ein, wenn Farbe auf dem Blatt hinunterlief.

Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass Kinder zu sehr eingeschränkt werden, wenn ich diese Vorgaben mache.

Natürlich schlug ich einem Kind auch mal vor, einen dickeren Pinsel zu nehmen, wenn es eine größere Fläche ausmalen wollte. Oder ich zeigte ihm, wie die Spitze eines Pinsels übers Papier tanzen kann, ohne zu kratzen oder die Borsten zu beschädigen.

Martin bot solchen Vorschlägen großen Widerstand. Ich dachte an seine Mutter und versuchte, ihm die größtmögliche Freiheit zu geben, bei allem, was er in Angriff nahm.

Und die Bilder, die er malte, waren nicht „schön“, sie waren nicht sorgfältig gemalt. Oft machte er nur wenige Striche auf das Blatt und sagte: „Fertig.“

Einmal malt er eine Senkrechte von oben nach unten, das Bild war fertig und er sagte: „Ich verbinde Himmel und Erde.“

Ich war hin und hergerissen zwischen Irritation, Enttäuschung und Faszination. Denn er war immer ganz bei der Sache. Nicht einmal in der ganzen Zeit war er unzufrieden mit seinem Bild oder wollte eines zerstören. Ich versuchte, ihn sanft länger an einem Bild zu halten: „Ist denn alles drauf, was du malen wolltest?“ „Komm, wir schauen das Bild mal von weiter weg an.“ Selten fehlte etwas. Fertig war fertig.

Mittlerweile hatte ich – auch durch Erfahrungen mit anderen Kindern – Kleister ins Atelier integriert. Die Kinder dürfen mit Fingern malen und schmieren, ihre Farben selbst mischen und auch mit Kleister verrühren in bereitgestellten Schälchen. Durch mein Wanderjahr bei Charlotte und Michael hatte ich selbst die Wichtigkeit der „Ursuppe“ erfahren, dieser Urgrund, aus dem alles erwächst, und der gut geerdet sein muss, bevor „eigene Gestalten“ daraus entstehen können.

Die Kinder, die zu mir kamen und kommen, haben „hungrige“ Hände, und die „richtige“ Pinselhaltung ist für manche am Anfang eine Überforderung. Ich ließ und lasse Martin mit den Fingern malen und streichen, ich unterstütze seine Freude beim Hineinkratzen ins Bild mit den Fingern oder Spachteln und Rollen, die ich mittlerweile nicht nur für die Erwachsenen, sondern auch für die Kinder bereitstelle.

Meine anfängliche Enttäuschung über nicht „schön“ gemalte Kinderbilder überwand ich vollständig, als die Zeit der Vulkane für Martin anbrach:

Er malte sie monatelang, in allen Größen; die Bilder wuchsen, die Lava brach aus und lief in Strömen die Berge hinunter. Er mischte verschiedenste Lava-Rot, jedes Mal neu.

Und zum ersten Mal erschien auch eine menschliche Gestalt, ebenfalls sehr groß. Es wuchsen Linien auf seinen Bildern wie Pflanzen. Dann kamen Hochhäuser und Treppen und Leitern. Er erzählte von Menschen, die sich dort aufhielten, aber er malte sehr selten eine menschliche Figur.

Es kamen auch immer wieder „Schmierbilder“ in Schlamm- und Modertönen, selbst gemischt aus allen Farben, manchmal noch Vulkane.

Vor ein paar Wochen ist der letzte erloschen.

Oft nimmt er die Bilder nach einigen Wochen der Aufbewahrung bei mir mit nach Hause. Er darf sie wohl, so groß wie sie sind, auch in seinem Zimmer aufhängen. Ich denke, dass seine Begeisterung für seine Bilder auch die Mutter überzeugt hat. Nur die Oma meckert manchmal über seine Bilder, weil sie so „unordentlich“ seien, erzählt er. Ich bin mir sicher, dass Martin seine Bilder gut zu schützen weiß!

Einmal kam er etwas lustlos ins Atelier und sagte: „Heute mag ich irgendwie nicht malen.“ Ich hängte ein Blatt für ihn auf und sagte: „Nimm dir ruhig Zeit und schau, was passiert. Etwas passiert immer, das weißt du ja.“

Nach einiger Zeit tippte er seine Finger in etwas Farbe und machte einen kleinen Abdruck auf sein Papier. „Oh“, sagte er, „das ist ein Stück von mir, das muss ich aber jetzt sichern!“

Er hatte breites, transparentes Klebeband auf meinem Regal entdeckt und bat darum, Streifen davon benützen zu dürfen, um seinen Fingerabdruck zu sichern. „Da ist DNA drin,“ sagte er altklug. Ich dachte an seine Mutter, die Lehrerin; und an all die Dinge, die Martin schon weiß und lange und viel davon erzählen kann.

Dann druckte er seine ganze Hand ab und sicherte auch diese. Die nächste Idee war, ein Haar von sich zu nehmen und zu „sichern“ auf dem Blatt neben den Abdrücken. Und zu guter Letzt musste noch ein bisschen Spucke – „auch ein Teil von mir“ – aufs Blatt. Dabei sang er leise fröhlich vor sich hin: „Sichern, sichern, sichern.“

In der letzten Malstunde stand er, nachdem er einen Pinsel in die Hand genommen hatte, versunken da und streichelte sanft dessen Haare. Es war ein breiter, flacher Pinsel und er sagte:

„Der ist so weich, das fühlt sich so schön an.“ Ich war ganz berührt von seiner Pinselzärtlichkeit. Ich erlaubte ihm, sich selbst, seine Hände und auch sein Gesicht mit diesem Pinsel zu streicheln. Er tat es minutenlang und war freudig und wie verzaubert.

Dann holte er sich rosa Farbe und malte zum ersten Mal zarte Herzen auf sein Papier, und er hielt den Pinsel locker und leicht in seiner Hand.

Martin ist inzwischen 7 Jahre. Ich habe viel von ihm gelernt und bin gespannt auf die nächste Malstunde.

Nachtrag:

Letzten Samstag malte er zum ersten Mal (!) einen breiten braunen Strich für die Erde, darauf einen grünen fürs Gras, angefangen hatte er mit einer Sonne in der linken Ecke, die er vorsichtig mit einem Schwamm antupfte, damit sie „mehr strahlt“ und einer blauen Linie oben als Himmel. Zwischen Himmel und Erde malte er mit zarter, lockerer Hand eine menschliche Figur, mit Silber.

Sie hat eine Sprechblase links neben sich, darin steht: „Ich h. Martin!“

Und sie/er lacht.

Auszug aus „AUSDRUCK 1/15“ – Newsletter des
Netzwerks Ausdrucksmalen nach Laurence Fotheringham e.V.
erschienen im Juli 2015

Copyright:

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Jutta Ittel (www.ausdrucksmalen-kunsttherapie-mannheim.de)
Manuela Meyer-Schwenk (manuela.schwenk@web.de)